1975 - 2015 - 40 Jahre Freier Deutscher Autorenverband Landesverband Nord e.V.
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Im Rahmen unserer Herbsttagung 2023 berichtete unser Vorstandsmitgied, Ulrike Noltenius, über die Schriftstellerin

Irmgard Keun (* 6. Februar 1905; † 5. Mai 1982).

 

 

                  Vortrag über Irmgard Keun – am 21.10.2023

                  während der Herbsttagung des FDA in Vechta

             

                         „Mitten im strengen Dienst verlor ein Hofnarr sein Lachen.

                         Da gefroren die Tränen in seinen Augen zu Eis vor Schreck,

                         und er konnte nicht mehr schlafen, aus Angst zu erwachen.

                         Der König überreichte ihm einen Scheck

                         und sagte: 'nun geh, du bist langweilig geworden.'

                         Der Narr nahm den Scheck nicht und bekam keinen Orden.

                         War er nun kein Narr mehr, oder war er erst jetzt einer                                     geworden?“

 

Das Gedicht: „Der Hofnarr“ stammt von einer Frau, die sonst kaum Gedichte geschrieben hat, einer Frau, deren Bücher 1933 auf die schwarzen Listen kamen und konfisziert wurden, einer Frau, die 5 Jahre lang nach Holland und Belgien emigrierte und ebenso lange Zeit, nämlich die des 2. Weltkriegs, in Deutschland in der „inneren Emigration“ lebte.

Sie stammen von einer Frau, die 27-jährig von der Literaturkritik als neuer Stern gefeiert wurde, und deren Romane dann 40 Jahre lang vergessen, nicht gelesen, nicht verlegt wurden, einer Frau, für die der Ruhm wenige Jahre vor ihrem Tod zu spät kam, die einsam und verbittert war, als sie starb: „Die Tränen in den Augen zu Eis gefroren“, wie es heißt in dem zitierten Gedicht.

Ich habe ein wenig Angst, hier über sie zu sprechen, Angst davor, dass sie mir unter der Hand zu Heldin gerät, denn Irmgard Keun hasste Ehrungen und sogenannte Gedenkfeiern. Das ihr vor Jahren angebotene Bundesverdienstkreuz lehne sie ab und gab in reinstem Kölsch den schönen Satz zum Besten: 'Was soll ich mir so'n Blechding umhängen.'

Irmgard Keun wollte keine Heldin sein. Und so dürfen wir ihr jetzt auch nicht posthum'so'n geistiges Blechding' umhängen.

Ebenfalls zu achten und zu respektieren ist ihre mit zunehmendem Alter immer werdende Flucht ins Anonyme, Private, ihre Verschwiegenheit,  was die eigene Person anging.

Ihr Werk aber, und das ist die einzig entscheidende Legitimation einer Rede über sie, ihr Werk wird man lesen, über ihr Werk sprechen, ihr Werk wird man würdigen, ihr Werk wird man lieben dürfen.

„Schriftsteller sterben nicht nur einmal“, sagte Keuns Freund Hermann Kesten, „durch Krankheit, Alter, Tod. Schriftsteller sterben, wenn man sie nicht liest.“

Irmgard Keun wurde gelesen – und zwar ganz am Anfang – zu Beginn der 30-ger Jahre, als sie mit dem Manuskript ihres ersten Romans „Gilgi“ ohne Geld und voller Hoffnungen nach Berlin kam und Wolfgang Krüger, dem Lektor des Universitas-Verlages den Roman zu lesen gab. Der lass, vorgeblich die ganze Nacht hindurch und erzählte, auch die Klofrau habe gelesen und den Roman für gut befunden. Irmgard Keun bekam Vertrag und 400 DM Vorschuss. Eine neue Autorin war geboren,

Kurt Tucholsky, der Irmgard Keun sehr schätzte, schrieb damals in der 'Weltbühne':

„Sie hat Humor wie ein dicker Mann, Grazie wie eine Frau, Herz, Verstand und

Gefühl. Sie ist etwas, was es noch niemals gegeben hat, eine deutsche Humoristin.“

 

Die Euphorie über „Gilgi“ und auch über das etwas später erscheinende Buch Irmgard Keuns: „Das kunstseidene Mädchen“ ist zu verstehen.

Unsentimental, ironisch, witzig. Ja, erbarmungslos witzig ist Gilgi, die Büroangestellte, die Tipperin, die weiß, was sie will  -   zumindest am Anfang des Romans. Der Tag kann ihr nicht lang genug sein. „Nur keine Zeit verlieren, nur nicht untätig sein“, lässt die Keun sie sagen.

Die Kaffeekränzchen ihrer kleinbürgerlichen dicken Stiefmutter meidet Gilgi ebenso wie ihre aus ganz anderem Milieu stammende Autorin Irmgard Keun, die sagte: „Meine Mutter kochte immer nur Marmelade ein. Ich fand das langweilig.“

Gilgi will weg, zieht fort von ihren Eltern, denn, so die Charakterisierung dieses Milieus: Zitat: „Der vollkommene Mangel an Unterhaltung kennzeichnet das Anständige, Legitimierte der Familie.....

Die Langeweile ist die Gewähr für das Stabile ihrer Beziehungen, und dass man sich nichts zu sagen hat, macht einander unverdächtig.“

Gilgi zieht zu Martin, dem Künstler, der seinen Tagträumen nachhängt und ebenso unfähig ist, mit Geld umzugehen wie zu arbeiten.

Gilgi verlässt ihn, als sie schwanger wird – in der begründeten Angst, dass er

der Verantwortung der Elternschaft nicht gewachsen sein wird.

Sie fängt noch einmal an: Zitat: „auf der krukeligen Erde ein Feuer zu machen.“

Aus ihrer schönen Liebe soll, sagt sie, nicht so'n Strindberg-Drama werden, und das Ende des Romans ist optimistisch.

Zitat: „Die schafft's, der riecht man an, dass sie's schafft. Die weiß, was sie will, die bleibt bestehen“, sagt Gilgis Jugendfreund Pit gegen Ende des Romans.

Aber – leicht ist es nicht. Der Alltag ist hart in Deutschland vor der Machtergreifung.

 

Der Leser erfährt viel über diese Zeit, auch im zweiten Roman Irmgard Keuns, dem „Kunstseidenen Mädchen“: Wie sie sich durchbeißen, die kleinen Leute jener Tage, die Vertreter, Nähmädchen, Stenotypistinnen, Angestellten: Unerwünschter Kinder- Reichtum, Inflation, Angst vor der Arbeitslosigkeit, wo man hinsieht, soziales Elend.

Und über allem, in allem trostlosen Alltag: Der Glanz der Glitzer- und Glamourwelt: Kinostars und Leinwandheldinnen, aufgetakelte Frauen in Kneipen und Cafés. Schlagertexte, die eine heile Welt versprechen, gehen nicht nur Doris aus dem 'Kunstseidenen Mädchen' und Gilgi durch den Kopf.

Harter Existenzkampf und Flucht in die Illusion – dicht nebeneinander.

Und neben der Zeit- und Sozialkritik immer auch und schon in diesen Romanen

Kritik am aufkommenden Nationalsozialismus, Kritik an politischen Missständen wie falschem Lokal-, falschem Nationalpatriotismus.

„Martin“, sagt Gilgi an einer Stelle, „ich habe mich schon auf der Schule geschämt, wenn 'Deutschland, Deutschland über alles' gesungen wurde – so ein widerwärtiges Lied – so fett zu sprechen, so fett zu denken, den ganzen Mund voll Lebertran. Die - mit ihrer aufdringlichen Vaterlandsliebe – verstehst du das...“

 

Die antinationalsozialistischen Wendungen schon in ihren ersten beiden Büchern bleiben nicht ohne Folgen:

„Alsphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“: Unter dieser Kennzeichnung werden die Romane Irmgard Keuns, gerade erst öffentlich bekannt, gelesen und gelobt schon 1933 in die Reihe des „schändlichen“ und „unerwünschten“ Schrifttums eingereiht.  Beschlagnahmt und konfisziert wurde alles, was sie geschrieben hatte, nachdem sie zunächst zur Änderung ihrer Bücher bewogen werden sollte.

Irmgard Keuns Haltung, ihre Reaktion, sie für den Nationalsozialismus zu gewinnen, ist klar und eindeutig.

Eine Episode mag das verdeutlichen. Als Irmgard Keun im Universitas-Verlag mit einem SS-Mann zusammentraf, und der sie mit: „Heil Hitler“ begrüßte, erwiderte sie barsch: „Heil Hitler, bei mir nicht. Guten Tag oder grüßen Sie gar nicht.“

Der SS-Mann: „Sie sind zu negativ.“ Irmgard Keun: “Und Sie können das überhaupt nicht beurteilen. Sie können ja nicht schreiben. Ob ich ein guter oder schlechter Schriftsteller bin, das wird sich zeigen. Aber ich bin einer. Sie sind wie Blunck (Blunck war der erste Präsident der Reichsschrifttumskammer). Sie sind zum Kotzen.“

Mit diesen Worten nicht genug. Irmgard Keun tat ein übriges und meldete beim Landgericht Berlin Schadensersatzanspruch wegen der Beschlagnahme ihrer Bücher an. Außerdem forderte sie Armenrecht für den Prozess. - Die Reaktion kam prompt. Irmgard Keun wurde vernommen, verhört, verschärft verhört und inhaftiert.

Ihr einige Jahre später in Amsterdam veröffentlichter Roman „Nach Mitternacht“ gibt Erfahrungen wieder, die sie  während ihrer Vernehmungen im Gestapopräsidium selbst gemacht hat und vermittelt uns zudem einen Einblick in die Atmosphäre der Unfreiheit, des Denunziantentums, des Anwachsens von Dummheit, Kleinmütigkeit und Bosheit in einer Diktatur, die Gemeinheit und Infamie nicht nur deckte, sondern sogar mit Belohnungen bedachte.

Zitat: „Immer mehr Menschen strömten herbei, das Gestapo-Zimmer scheint die reinste Wallfahrtsstätte. Mütter zeigen ihre Schwiegertöchter an, Töchter ihre Schwiegerväter,  Brüder ihre Schwestern, Schwestern ihre Brüder.... Und die Schreibmaschinen klappern, klappern, klappern, alles wird zu Protokoll genommen, alle Anzeigenden werden gut und freundlich behandelt.“

Irmgard Keun selbst kommt zwar frei aus der Haft, doch sie ist nicht mehr sicher in Deutschland und flieht 1935 nach Ostende in Belgien und später nach Holland.

Zitat: „Im April 1935 fuhr ich nach Ostende. Ich verreiste nicht, ich wanderte aus, und ich war keineswegs sicher, dass ich noch einmal wiedersehen würde, was ich verließ.

Gewiss, eines Tages würde es keinen Nationalsozialismus mehr in Deutschland geben. Aber wie viele Jahre der Ewigkeit würden bis dahin vergehen?“

Die Exilzeit war schwer, nicht nur für Irmgard Keun. Doch sie hatte – jedenfalls für   sie - nicht nur Schattenseiten.

Irmgard Keun findet Anschluss an Gleichgesinnte, lernt Stefan Zweig kennen, Ernst Toller,  Hermann Kesten, Egon Erwin Kisch. Und sie trifft hier auf den Mann, dessen Persönlichkeit sie nachhaltiger beeindruckte und beeinflusste als die irgendeines anderen Menschen früher oder später: Joseph Roth.

Hermann Kesten: „Nicht mehr ganz nüchtern, bekleckert und mit Zigarettenasche bestreut kam er eines Tages an den Tisch gewankt, an dem Irmgard Keun saß: Rechts neben ihr Stefan Zweig, links daneben Egon Erwin Kisch.

Er beachtete die Männer nicht, sondern begann ebenso penetrant wie unbeirrt inquisitorisch Irmgard Keun Fragen zu stellen.

Viele Jahre später hat sie selbst ihren Eindruck von Joseph Roth – damals beschrieben: „Als ich Joseph Roth zum ersten Mal in Ostende sah, da hatte ich das Gefühl einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram. Später verwischte sich dieser Eindruck, denn Roth war damals nicht nur traurig, sondern auch noch der beste und lebendigste Hasser.“

Und an anderer Stelle: '“Alles, was seinem Wesen nahe kam – Menschen, Dinge, Ideen erkannte er bis in die verborgenste Unzulänglichkeit und bis in jene Kälte, die auch den lebendigsten wärmsten Atem erstarren macht ….. Was seiner rastlos schaffenden Phantasie gelang, zerstörte ihm immer wieder sein bitterböser Verstand.“ (Zitat aus: „Bilder aus der Emigration“).

Enges Beieinander von Liebe und Hass, Diskrepanz zwischen Gefühl und Verstand, die Gabe liebevoller und zugleich überscharfer Fremd- und Selbsterkenntnis, das alles sind Eigenschaften, die Joseph Roth unter anderem auch hatte. Darüber hinaus aber sind es Charakteristika, die auf Irmgard Keun selbst zutreffen, sie kennzeichnen.

Irmgard Keun selbst war kompromisslos in Liebe und Hass – nicht ihr Freund Joseph Roth. Irmgard Keun hatte einen scharfen, bitterbösen Verstand, der zerstörte, was ihrer rastlos schaffenden Phantasie gelang. Irmgard Keun selbst sah Personen und Lebensweisen auf den Grund, erkannte Menschen und Dinge bis in die verborgenste Unzulänglichkeit und Kälte.

So sind die sich harmlos gebenden ausnahmslos jungen Ich-Erzähler bzw. -Erzählerinnen ihrer Romane nicht mehr und nicht weniger als ausgekochte Sozialkritiker, Propheten, die im Gewande scheinheiliger Unwissenheit auf infame Weise ihrer Zeit den Spiegel vorhalten, mit sechstem Sinn aufspürend und aussprechend, was faul ist im Staate Dänemark.

Dabei erbarmungslos in ihrem bloßlegenden Witz, grausam im Aufdecken von Dummheit, Eitelkeit und Bosheit, die sich spießbürgerlich tarnt.

Sie sind frech – diese scheinbar harmlosen Heldinnen – mutig und vernünftig, kämpferisch und vergnüglich. Sie bringen uns zum Lachen über unsere Schwächen – da, wo wir mit Carl Joseph und dem Herrn von Trotta bei Joseph Roth eher mit-empfinden, mit-leiden.

Joseph Roths Gestalten leisten sich Gefühl, dürfen es sich leisten. Irmgard Keuns Figuren brechen eine Bindung ab, bevor sie tiefer und ernster wird. Sie scheuen die Realisierung von Liebesbeziehungen, das Ziehen von Konsequenzen – wie Doris und Gilgi – auch und gerade dann, wenn sie gefühlsmäßig stark betroffen sind.

Sie brauchen ihren Kopf, um durchzukommen, sie brauchen ihren Verstand, um zu überleben, die eigene Standhaftigkeit, um anderen helfen zu können. Manchmal will es scheinen, sie tun des Vernünftigen zu viel, in diesem Punkt ihrer Autorin ähnlich, die umso erbarmungslos witziger reagierte, je mehr ihr zum Heulen war.

Trauer, Hass und Wut auf die Verhältnisse in Deutschland nach der Machtergreifung äußern sich bei ihr in dem schnoddrig-geißelnden Ton, in dem sie beispielsweise die Ankunft Hitlers in Frankfurt schildert.

„Langsam fuhr ein Auto vorbei“, lässt sie in „Nach Mitternacht“ z.B. ihre Ich-

Erzählerin Sanna sagen. „Darin stand der Führer wie der Prinz Karneval.  Aber er

war nicht so lustig und fröhlich wie der Prinz Karneval und warf auch keine Bonbons und Sträußchen, sondern hob nur eine leere Hand.“ Und an anderer Stelle des Romans nach Mitternacht: „Die Welt war groß und dunkelblau, die tanzenden Männer waren schwarz und gleichmäßig – ohne Gesichter und stumm in schwarzer Bewegung.

Ich habe in einem Kulturfilm mal Kriegstänze von Negern gesehen, die waren etwas lebhafter, aber der Tanz der Reichswehr hat mir auch sehr gut gefallen.“

Die Charakterisierung ist spritzig und böse. Doch es fragt sich, ob Witz und sprachliche Brillanz ausreichen, um die teuflische Bosheit, die Infamie und das Verbrecherische jenes Regimes angemessen zu beschreiben.

Irmgard Keun wusste das und so legte sie dem Journalisten Heinrich Worte in den Mund, die wie ein Selbstbekenntnis der Schriftstellerin Irmgard Keun klingen:

„Ich habe die Menschen geliebt. Länger als ein Jahrzehnt habe ich mir die Finger wundgeschrieben und den Kopf leergedacht, um sie vor dem Wahnsinn der herein- brechenden Barbarei zu warnen. Eine Maus, die durch ihr Piepsen eine Lawine aufhalten will. Die Lawine ist gekommen, und die Maus hat ausgepiepst....“

Oder: „Ich war ein geistreicher und witziger Journalist. Aber man kann weder hier noch im Ausland ein geistreicher und witziger Journalist sein, wenn einem ewig die Schreie aus deutschen Konzentrationslagern in den Ohren gellen.“

Der Journalist Heinrich in dem Roman 'Nach Mitternacht' trägt viele Züge Josephs Roths, der im Frühjahr 1939 starb – einen nicht ungewollten, jahrzehntelang durch Unmengen alkoholischer Getränke vorbereiteten Tod.

Er starb einsam in Paris, ein Jahr nach der Trennung von Irmgard Keun,7 Tage nach der Nachricht von Ernst Tollers Selbstmord.

Irmgard Keun war zur Zeit des Todes Joseph Roths noch im holländischen Exil, nachdem sie ihrem Freund noch ein anderes, eindeutigeres Denkmal gesetzt hatte, und zwar in dem Exilroman „Kind aller Länder“, der in der Gestalt des Dichtervaters der 10-jährigen Kully ein glänzendes Portrait Roths enthält und zudem viele Erlebnisse aus der gemeinsamen Reisezeit künstlerisch verarbeitet.

Dieser späte Exilroman führt noch einmal die ganze farbige Palette der Erzählkunst Irmgard Keuns vor Augen: Genauigkeit der Milieuschilderung, Treffsicherheit der psychologischen Personenkennzeichnung, Situationskomik und Mutterwitz sind dabei nur einige charakteristische Eigenarten.

„Kind aller Länder“ ist mehr noch als andere Bücher Irmgard Keuns heiter und traurig, leicht und schwermütig, witzig und tiefgründig zugleich.

Faszinierend ist nicht nur der Inhalt, das Hin- und Herreisen eine Exilfamilie kreuz und quer durch Europa und nach Amerika, faszinierend ist auch nicht nur die an Originalität kaum zu überbietende Figur des Dichter-Vaters, der

ebenso reizend wie zerstreut und mittellos Frau und Kind als glaubwürdiges Pfand in den Hotels verschiedener Exilländer zurücklässt. Faszinierend ist vor allem die Erzählperspektive, in der dieses Buch geschrieben ist. Die Sichtweise von unten sozusagen, die der Autorin dazu dient, erlebnismäßige Nähe und kritische Distanz, Sachlichkeit und Spontaneität in neuer und origineller Weise zu verbinden.

 

Die Hauptperson und Ich-Erzählerin Kully nämlich ist ganze 10 Jahre alt, und ihre Sichtweise, die rational, spontan und unbefangen ist, wird zum Maßstab aller Ereignisse, Begebenheiten und Personen. Die naive Kinderperspektive wirkt daher wie ein Vergrößerungsglas, das der Autorin dabei hilft, die Widersprüchlichkeit, ja, Unsinnigkeit der „normalen“ Erwachsenenwelt zu verdeutlichen.

Anders und mit Kullys eigenen Worten ausgedrückt: „Manchmal weiß ich nicht, ob ich Erwachsene nicht verstehe, oder ob sie mir einfach zu dumm sind.“

Kully ist naseweise und altklug, aber sie ist trotz aller Schwierigkeiten in den Exilländern nicht heimatlos oder entwurzelt. „Richtiges Heimweh“, sagt sie am Ende des Romans, „habe ich eigentlich nie. Und wenn mein Vater bei uns ist, schon gar nicht.“

Auch für Kullys Autorin war das äußere Exil nicht so schlimm wie das innere.

Das 'innere Exil', das heißt, die Zeit in Deutschland, dauerte bis zu ihrem Tod am

06. Mai 1982 und umfasste nicht nur die Kriegsjahre, die sie mit falschem Pass unerkannt in Köln verbrachte. Sie habe in den Jahren ununterbrochen Phanodorm gegessen, schrieb sie an Hermann Kesten, um etwas schläfrig und ruhig zu sein.

Das 'innere Exil', das waren vor allem die Jahre, Jahrzehnte nach 1945, die Zeit nach dem Tod ihrer Eltern, die Zeit, in der sie in Bonn allein in einem winzigen

Zimmer hauste, unerkannt und einsam, ohne Leser, ohne Freunde und Verwandte.

Mit einer einzigen Ausnahme: Der Tochter Martina.

Im Jahre 1951 gab es eine Anzeige im Kölner Stadtanzeiger, die Irmgard Keun noch einmal in ihrer alten Ungebrochenheit zeigt, frei und souverän: „Mit großer Freude“ stand da zu lesen: „zeige ich die Geburt meiner Tochter Martina an. Irmgard Keun.“

„Was denn der Vater Martinas, Arzt in München und verheiratet, zu der Geburt seiner Tochter gesagt habe“, wollte ein neugieriger Journalist wissen. Irmgard Keun:

„Mein Gott. Der wusste doch gar nichts. Ich dachte, das machen wir schon so. Den belasten wir damit nicht.“

Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, ihn zu informieren oder gar, ihn um finanzielle Hilfe zu bitten.

 

Schriftsteller sterben nicht nur physisch durch Krankheit, Alter, Tod. Schriftsteller sterben, wenn man sie nicht liest.

Irmgard Keun galt kurze Zeit lang als neuer Stern am Literaturhimmel.

Dann wurde sie vergessen: Im 5 Jahre dauernden äußeren, im 5 Jahre dauernden inneren Exil und die langen mehr als 30 Jahre hinterher.

Als man sie plötzlich Ende der 70-ger Jahre wiederentdeckte, als ihre Bücher im Classen-Verlag als Gesamtwerk herausgebracht wurden, als man sie für Feiern und Interviews gewinnen wollte, war es für sie persönlich zu spät.

„Kein Anschluss unter dieser Nummer“, sollte der Titel ihrer Lebenserinnerungen

heißen, für deren Veröffentlichung sich ein bekannter Verlag einsetzte.

Sie hat diese „Erinnerungen“ nicht geschrieben. Es fehlte die Kraft dazu.

Verdrossen hatte ihr Tag jahrelang in einer der vielen Kneipen Kölns begonnen. Verdrossen hatte er dort geendet.

 

                              „Mitten im strengen Dienst verlor ein Hofnarr sein Lachen.

                               Da gefroren die Tränen in seinen Augen zu Eis vor Schreck

                               und er konnte nicht mehr schlafen aus Angst zu erwachen.“

 

                               Der König reichte ihm einen Scheck

                               und sagte: „Nun geh', du bist langweilig geworden.

                               Der Narr nahm den Scheck nicht und bekam keinen

                               Orden.“

 

Irmgard Keun wollte keine Gedenkfeiern, sie wollte kein Held sein, sie wollte keine Blechorden haben.

Doch einen wichtigen, lebens- und überlebenswichtigen Wunsch hatte auch sie: Sie wollte gelesen, immer wieder gelesen werden.

 

40 Jahre lang hat man ihr diesen einen Wunsch verweigert, und ich habe das Gefühl, man tut es noch heute.

 

„Verneigen wir uns vor der Keun“, schrieb Ulrich Wenzel in der FAZ. „Aber nicht zu lange. Und dann lesen wir sie!“

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